Rede von Winfried Hermann: Aktuelle Stunde “Stuttgart 21″

Autor: admin  |  Kategorie: Reden, Stuttgart 21

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Der Kollege Winfried Hermann von Bündnis 90/Die Grünen ist der nächste Redner.

Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kollegin Maag hat in ihrer Rede gesagt: Wut und Hass machen blind. – Seit letzter Woche wissen wir, dass auch die Wasserwerfer der Polizei blind machen können.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Na ja!)

Ich finde es schon etwas beschämend, wie Sie hier einerseits Betroffenheit signalisieren und auf der anderen Seite nicht bereit sind, wenigstens zu sagen, dass dieser Polizeieinsatz in jedem Fall unverhältnismäßig war.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Es ist absolut inakzeptabel, dass man auf friedlich auf dem Boden sitzende junge Menschen und ältere Menschen

(Michael Schlecht [DIE LINKE]: Kinder!)

Wasserwerfer wie Kanonen draufhält, weil völlig klar ist, dass das zu Verletzungen führt. Wer zu verantworten hat, dass diese Kanonen auf die Menschen gerichtet wurden, der hat billigend in Kauf genommen, dass sie sich schwer verletzen, dass sie unter Umständen ihr Augenlicht verlieren. Es wäre das Mindeste gewesen, was ich erwartet hätte, dass man auch dazu heute etwas sagt und dass die Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft gezogen werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Ich habe heute von verschiedenen Leuten gehört: Ja, wir haben kommunikative Fehler gemacht. – Das stimmt; aber Sie haben immer noch nicht begriffen, welchen kommunikativen Fehler Sie gemacht haben.

Ich habe vor kurzem beim Umzug eine ganze Kiste Propagandamaterial zu Stuttgart 21 entsorgt. Für kein anderes Projekt ist in den 90er-Jahren so viel Geld ausgegeben worden. Man hat versucht, die Leute mit Werbematerial sozusagen zu überreden und sie propagandistisch zu bearbeiten. Alle Stuttgarter Zeitungen waren Feuer und Flamme und immer für dieses Projekt. Man hat immer positivste Geschichten darüber geschrieben. Erstaunlich nur, dass das nicht verfangen hat. War das ein Kommunikationsproblem? Haben sie die falschen Broschüren geschrieben? Oder könnte es eventuell daran liegen, dass dieses Projekt so grundschlecht ist, dass man die besten Broschüren machen kann und trotzdem jeder merkt, dass es Mist ist?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Man muss kein Bahnexperte sein, um zu erkennen, dass dieses Projekt hochriskant ist und dass nicht besonders einleuchtend ist, dass man die Menschen unter die Erde führt, dass es nicht besonders intelligent ist, dass eine Stadt, die Mittelpunkt einer ganzen Region ist, alles tut und viel Geld dafür ausgibt, dass die Leute möglichst schnell unten durchfahren und nichts von der Stadt sehen. Was für eine absurde Form von Reise- und Bahnpolitik!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)

Das ist die Logik der Geschwindigkeit unten durch. Sie haben nicht erkannt, dass ein Bahnhof wie der Stuttgarter Bahnhof das Zentrum eines integralen Taktfahrplans ist. Das ist das, was wir von einer guten Bahn erwarten: eine gut vernetzte Bahn, eine Bahn für Nahverkehr und für Regionalverkehr. Darum verteidigen die Leute diesen Bahnhof – und nicht, weil sie einfach blind gegen Fortschritt sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Immer wieder behaupten Sie, alle Entscheidungsprozesse wären korrekt abgelaufen. Tausend Debatten, tausend Entscheidungen in allen Parlamenten – alles formal korrekt. Und dann noch die Planfeststellung! Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Erstens reicht es heutzutage nicht aus, nur formal korrekt zu sein. Zweitens war es nicht einmal formal korrekt; denn in keinem dieser Parlamente lagen die ordentlichen Zahlen auf dem Tisch. Auch im Deutschen Bundestag lagen die entsprechenden Gutachten nicht auf dem Tisch.

(Patrick Döring [FDP]: Ist doch schlicht gelogen! – Widerspruch bei der CDU/CSU)

– Patrick Döring, du warst selber dabei, als vor zwei Jahren im Deutschen Bundestag mit falschen Zahlen diesem Projekt grünes Licht gegeben wurde. Stuttgart 21 und die Neubaustrecke mit falschen, tief gerechneten Zahlen!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)

Zum Planfeststellungsprozess behaupten Sie nach wie vor steif und fest, das wäre alles durch. Es ist nicht durch. Die Neubaustrecke ist überwiegend nicht rechtskräftig planfestgestellt. Nicht einmal Stuttgart 21 ist in allen Bereichen rechtskräftig planfestgestellt. Wenn Sie das Planfeststellungsverfahren wirklich ernst nehmen, dann muss es auch einen Punkt geben, wo es heißt: So geht es nicht.

Heute hat Ministerpräsident Mappus in seiner Rede im Rahmen der Aktuellen Stunde im Landtag von Baden-Württemberg ein putziges Beispiel gebracht. Er hat gesagt: Wo kämen wir denn dahin, wenn einer eine Baugenehmigung hat, einen roten Punkt, in seinem Garten die Bäume fällt – interessant, wie er da den Eigentümer verwechselt –, anfangen will zu bauen, und dann kommt plötzlich eine Demonstration, die das verhindert?

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Ein gutes Beispiel!)

Aber wie ist es denn hier? Wir haben keine Baugenehmigung für das ganze Projekt.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Wie bitte? – Patrick Döring [FDP]: Das ist gelogen!)

Es ist doch ungefähr so, als ob jemand im mittleren Stock baut, aber der Keller noch nicht genau geplant ist, es noch keine rechtskräftige Planfeststellung gibt, die Zufahrt für die Tiefgarage noch nicht geklärt ist. Trotzdem fängt man an zu bauen. Das ist Ihre Logik. Die bringt die Leute wirklich so durcheinander, dass sie sagen: Es kann doch nicht wahr sein, dass Politik so denkt und dann noch behauptet, dass das Verfahren korrekt ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das ist das krasse Gegenteil der Fakten!)

Es ist also für die Leute nicht nachvollziehbar. Patrick Döring, dieses Projekt ist nie offen diskutiert worden. Nie ist K 21 offen und alternativ diskutiert worden.

(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Ach du liebe Zeit, wo bist du denn gewesen? Das war ein jahrelanger Tiefschlaf! – Widerspruch bei der FDP)

– Nein, dieselben Gutachter, die Stuttgart 21 gemacht haben, haben Sie beim Bund und beim Land als Berater gehabt. Die haben dann gesagt: Das geht nicht, das ist viel zu teuer, das funktioniert nicht.

(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)

– Warum schreien Sie durch die Gegend? Weil Sie es nicht ertragen können.

(Patrick Döring [FDP]: Wir können das gut ertragen!)

Das ist die Wahrheit, die in dieser Geschichte eine Rolle spielt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Du hast geschlafen all die Jahre!)

Offene Debatten, transparente Strukturen, Transparenz der Gutachten, Transparenz der Kosten – wer das alles ausblendet, braucht sich nicht zu wundern, dass Tausende und Abertausende immer wieder auf die Straße gehen.

(Markus Grübel [CDU/CSU]: Zur Transparenz: Können Sie auch mal sagen, welche Trasse Sie wollen?)

Zu guter Letzt. Heute ist viel über die Verantwortung von Ministerpräsident Mappus gesprochen worden. Aber auch Sie haben hier eine Verantwortung als Koalitionsmehrheit; die Bundesregierung hat hier eine Verantwortung. Denn es geht im Wesentlichen um das Geld des Bundes und darum, was der Bund im Schienenbereich überhaupt noch leisten kann. Sie wissen so gut wie ich – jedenfalls diejenigen, die im Verkehrsausschuss sind, wissen es –, dass dieses Projekt zusammen mit der Neubaustrecke mit der Summe von 10, 11 oder noch mehr Milliarden Euro

(Patrick Döring [FDP]: Das sind doch Fantasiebeträge!)

den Schienenverkehrsetat in den nächsten zehn Jahren in unglaublicher Weise plündert, ruiniert,

(Patrick Döring [FDP]: Fantasiebeträge!)

sodass zahlreiche andere, vernünftige Projekte nicht möglich sind. Das ist doch der Grund, warum wir gegen dieses Projekt kämpfen: weil es unglaublich viel Geld kostet und nichts bringt.

(Lebhafter Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Patrick Döring [FDP]: Fantasiebeträge!)