Kolumne Schwäbisches
Tagblatt
Tübingen, 06.10.2005
Große Koalition muss auch große
Probleme angehen
Auf dem Ebertplatz, zwischen Reichstag und dem Gebäude
der Parlamentarischen Gesellschaft, erleben die zahlreichen
Berlin-Touristen derzeit ein eigenartiges demokratisches
Spektakel. Schon am Vormittag bauen die TV-Sender ihre
Kameras auf (jeder will den besten Platz!), direkt vor
dem Eingang zur Parlamentarischen Gesellschaft. Ab und
zu sieht man sogar einen bekannten Reporter oder eine
Redakteurin. Alle bereiten sich auf die Pressekonferenz
am Spätnachmittag vor. Manchmal wird es auch abends.
Es zieht sich hin. Wie sich die Sondierungsgespräche
insgesamt hinziehen. Eine Mischung aus Spannung und
Langeweile.
Immerhin können die zufälligen Besucher
und Besucherinnen live dabei sein. Ganz ohne Zaun und
Sicherheitsglas. Was Merkel, Stoiber, Müntefering
und Schröder oder wer auch immer in die Mikrofone
und Kameras sagen, sind oft ziemlich altbekannte Phrasen
noch aus dem Wahlkampf. Man sträubt sich, mit den
Koalitionsverhandlungen zu beginnen, obwohl es Zeit
wird, dass sie endlich beginnen. Alle warten darauf.
Bei allem Verständnis für die schwierige
Situation, bei allem Verständnis für diejenigen
Verantwortlichen, die nie eine große Koalition
wollten, es gibt genügend starke Kräfte bei
CDU/CSU und SPD, die für eine große Koalition
sind. Der einsame Beschluss von Schröder und Müntefering,
vorzeitig Neuwahlen anzustreben, den viele Rotgrüne
nicht verstanden haben, fiel doch auch mit Kalkül.
Wenn nicht mit Grünen, dann wollte man eben in
einer großen Koalition an der Macht bleiben. Die
großen Probleme lassen sich sowieso eher gemeinsam
mit der anderen großen Partei lösen, sagten
sich die wichtigsten Genossen. Ja, sage ich: Daran muss
eine große Koalition gemessen werden.
Aus Oppositionssicht müsste ich mir wünschen,
dass die große Koalition möglichst wenig
zustande bringt. Aber im Interesse dieses Landes muss
eine große Koalition auch die wirklich großen
Probleme angehen und lösen. Als da sind: Sicherung
der staatlichen Einnahmen, damit Mittel für Zukunftsinvestitionen
in Bildung und Forschung getätigt werden können;
Entwicklung einer langfristigen Strategie zum Abbau
der Staatsverschuldung; Vereinfachung des Steuerrechts;
Entbürokratisierung und Abbau von Subventionen;
Anpassung der sozialen Sicherungssysteme an die Herausforderungen
des demografischen Wandels inklusive Reform der Pflegeversicherung;
soziale Korrektur der Arbeitsmarktreformen; Bekämpfung
der Klimakatastrophe durch Energiesparen, Energieeffizienzsteigerung
und regenerative Energien. Und nicht zuletzt: Reform
des Föderalismus, effizientere und weniger bürokratische
Verwaltungs- und politische Entscheidungsstrukturen.
Es gibt viel zu tun. Schluss mit Personalgeplänkel
und Taktieren. Verhandelt endlich ernsthaft und zielgerichtet.
Packt’s an!
zurück...
|